Wenn man bereits mitten im Leben steht, kein Kind mehr ist und dann die eigenen Eltern sterben – ist dies oft ein sehr erschütternder Einschnitt ins Leben. Fassungslosigkeit ist ein Gefühl, dass viele Söhne und Töchter dann heimsucht. Dabei wissen wir ja unser Leben lang, dass unsere Eltern eines Tages sterben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor uns sterben werden, ist sogar relativ hoch.

Fassungslosigkeit trotz Erwartung

Und trotzdem können wir den Tod, wenn er dann eintritt, häufig nicht begreifen. Das Verständnis dafür, dass ein Elternteil oder sogar beide von uns gegangen sind, folgt meist erst viel später. Häufig begreifen wir ihren Tod erst dann, wenn wir sie im Sarg liegen sehen oder wir uns am Grab das letzte Mal von ihnen verabschieden.

Es ist eigentlich keine Überraschung für uns, dass unsere Eltern sterben werden. Gerade dann, wenn wir selber schon ein gewisses Alter erreicht haben, müssen wir damit rechnen, dass unsere Eltern bald versterben werden. Es ist das zu Erwartende. Dennoch berührt uns ihr eintretender Tod dann meist sehr tief und lange. Der Tod der Eltern ist ein tief einschneidendes Ereignis im Leben der Kinder.

Eine Zeitreise durch die Kindheit

Fast immer durchlaufen die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern eine Art Zeitreise. Sie werden zurückversetzt in ihre Kindheit, sie durchleben sie sehr intensiv, mit allen schönen und schrecklichen Momenten. Sie fühlen sich trotzdem wieder wie das Kind, das sie eigentlich schon lange nicht mehr sind. Das Kind, das plötzlich allein gelassen wird.

Dieses intensive Erleben der eigenen Kindheit ganz sehr extreme und vielschichtige Gefühle hervorrufen.

Erleichterung – ein verbotenes Gefühl?

Einige Töchter und Söhne erleben nach dem Tod ihrer Eltern ein Gefühl der Erleichterung. Gerade dann, wenn die Eltern vorher einen langen Kampf aufgrund einer quälenden Krankheit hinter sich hatten, oder die Kinder sehr stark in die Pflege der Eltern eingebunden waren, kann diese Emotion sich hervortun. Am Ende erschienen die Eltern ihren eigenen Kindern selber wie Kinder, die nichts mehr alleine konnten und von ihren Kindern wie Eltern behandelt wurden. Wie ein Rollentausch. Dann kann nach dem Tod eine Art «Aufatmen» erfolgen, denn nun sind diese negativ besetzten Erinnerungen des letzten Kampfes beseitigt.
Viele Kinder schämen sich für dieses Gefühl. Es entspricht nicht der Norm, nach dem Tod der Eltern erleichtert zu sein. Man müsste doch traurig sein und viel weinen. Doch es ist falsch, sich für dieses Gefühl zu schämen oder es gar zu verdrängen.

Trauer kennt keine Normen – alle Gefühle sind möglich

Alle Emotionen, die nach dem Tod der Eltern erfolgen, sollten zugelassen werden. Sie sind vielschichtig und können sehr gegensätzlich sein. Es ist völlig normal, dass jeder den Tod seiner Eltern anders erlebt und damit umgeht. Zudem sind die verschiedenen Trauerphasen davon gekennzeichnet, dass viele verschiedene Emotionen durchlebt werden. Da kann es schon Mal sein, dass das Kind an einem Tag zutiefst traurig, am nächsten aber sehr fröhlich ist. Diese zum Teil ambivalenten Gefühle sollten zugelassen und akzeptiert werden. Genauso können auch Wut oder Ablehnung nach dem Tod der Eltern auftreten. Auch diese Gefühle sollten nicht verdrängt werden und man muss sich nicht für sie schämen.

Es ist wichtig, diese Gefühle zu akzeptieren. Auch die der Erleichterung. Denn später folgt meist dann doch das erwartete Gefühl der Trauer. Dies wird dann von vielen als eine Art «umarmende Wärme» empfunden.

Hoffnungen werden zu Unmöglichkeiten

Viele Kinder erleben nach dem Tod ihrer Eltern auch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Obwohl wir Kinder wissen, dass unsere Eltern eines Tages sterben werden, verdrängen wir diesen Gedanken und geben uns selbst die Hoffnung, dass dies nicht passieren wird. Zudem gab es im Leben oder der Beziehung zu den Eltern eventuell Wünsche, die unerfüllt bleiben. Wenn während des Lebens ein Konflikt zu den Eltern oder einem Elternteil bestand und dieser nicht gelöst werden konnte, ist auf einmal jegliche Hoffnung verloren.

Dann macht sich ein Gefühl der Trauer um das Versäumte, aber auch der Trauer um sich selbst breit. Kinder bedauern es dann zutiefst, dass sie diese Probleme, Konflikte oder Wünsche nicht mit ihren Eltern klären oder erfüllen konnten.

Die Sicherheit wird genommen

Eltern vermitteln ihren Kindern immer ein Gefühl der Sicherheit, selbst wenn sie nicht immer da sind. Es ist z.B. das Elternhaus, das immer da war und nun plötzlich weg ist. Es ist diese konstante im Leben, die nicht mehr da ist. Man wusste, man kann jederzeit zu seinen Eltern, wenn etwas ist. Man kann sie anrufen, sie um ihren Rat bitten. Oder selbst, wenn man dies nicht getan hat, wusste man «Sie sind da». Sie waren wie ein Schutzschild oder eine Rückendeckung im Leben des Kindes. Plötzlich fehlen nun dieser Schutz und dieses Sicherheitsgefühl. Selbst wenn die Kinder schon längst eine eigene Familie gegründet haben, wird sich dieses Gefühl, plötzlich ganz alleine zu sein, höchstwahrscheinlich breitmachen.
Dann wird häufig die eigene Sicherheit in Frage gestellt und man verspürt Angst und Schwäche. Auch diese Gefühle sind zu akzeptieren, irgendwann werden sie vorübergehen.

Es hilft aber beim Trauer- und Verarbeitungsprozess, das Elternhaus aufzulösen und ihre Sachen aufzuräumen. Denn so kann man sich in Ruhe nochmal verabschieden, man durchlebt noch einmal viele Phasen des Lebens und der Kindheit mit den Eltern oder erfährt sogar noch etwas über seine Eltern, was man bis dato gar nicht wusste. Das Aufräumen und Auflösen des Elternhauses hilft, mit dem Tod der Eltern besser abschliessen zu können.

Der eigene Tod wird bewusster

Wenn die Eltern sterben, wird uns auch unser eigener Tod plötzlich bewusster. Natürlich wissen wir alle, dass wir eines Tages sterben werden. Aber erst wenn die Eltern nicht mehr da sind, wird uns klar, dass wir «die nächsten» sein könnten. Der Tod, der vorher immer abstrakt war, wird plötzlich real und greifbar. Die eigene Vergänglichkeit wird deutlicher. Dies kann zu Ängsten führen, kann aber auch helfen, das eigene Leben intensiver zu leben. Dann kann es zu Sinnfragen kommen. «Bin ich eigentlich glücklich? Was müsse ich ändern, um mein Leben glücklicher zu leben?» Dies kann dabei helfen, das eigene Leben wirklich wieder intensiver zu führen und glücklicher zu leben.

Ungeklärte Beziehungen erschweren den Abschied

Generell wird der Tod der Eltern von Kindern, die eine geklärte Beziehung zu ihren Eltern hatten, meist besser verarbeitet, als bei komplizierten oder ungeklärten Beziehungen. Wenn immer ungeklärte Fragen oder Vorwürfe im Raum standen, die bis zum Tod nicht geklärt werden konnten, beschäftigt dies die Kinder meistens noch lange Zeit nach dem Tod der Eltern. Dann entstehen Vorwürfe und man bedauert es, nicht auf die Eltern zugegangen zu sein.

Tod der Eltern kann zu Unabhängigkeit führen

Es ist schrecklich, seine Eltern zu verlieren. Trauer, Wut, Angst, Zweifel, Freude, Erleichterung – alle Emotionen können in den Kindern hochkommen. Teilweise auch gleichzeitig und sehr heftig. Freunde und Familie, aber auch man selbst muss versuchen, diesen emotionalen Ausnahmezustand zu akzeptieren und zu durchleben. Es gibt keine Norm oder Regeln dafür, wie man nach dem Tod der Eltern richtig trauert oder sich zu verhalten hat. Jeder durchlebt diese schlimme Zeit individuell.

Was aber wichtig ist: es wird irgendwann weitergehen. Und häufig führt der Tod der Eltern zu einem Gefühl der grösseren Unabhängigkeit der Kinder. Denn sie merken nun, dass sie für ihr eigenes Leben selbst verantwortlich sind und niemand mehr für sie «geradesteht». Dies kann sich zu einer gewissen Stärke und einem Unabhängigkeitsgefühl entwickeln und dem Kind guttun. Diese Erkenntnis führt dann wiederum zu einer Emotion der Dankbarkeit und sehr liebevollen Gefühlen für die Eltern, selbst dann, wenn die Beziehung zu Lebzeiten vielleicht gar nicht so positiv war.

Es wird weitergehen

Letztendlich ist der Tod der Tod der Eltern ein grosser – vielleicht sogar der grösste – Einschnitt in das Leben eines Kindes. Er ist mit vielen ambivalenten Gefühlen verbunden und braucht seine Zeit, um verarbeitet und akzeptiert zu werden. Doch egal, wie getrauert wird und wie lange der Trauerprozess andauert, es wird irgendwann besser werden und das eigene Leben kann weitergehen.