Trauer ist ein Gefühl, das wir als unangenehm empfinden und das wir gerne vermeiden würden, wenn dies möglich wäre. Zudem wird in unserer Leistungsgesellschaft Trauer als unproduktiv und störend empfunden – alle Menschen sollen möglichst «funktionieren» und ihr Arbeitspensum erfüllen.

Doch Trauer ist wichtig. Trauer hat eine bedeutende Funktion, die wir benötigen, um nach einem Verlust mit der Wirklichkeit und dem Leben klarzukommen. Im Folgenden erklären wir Ihnen, welche Funktion die Trauer beinhaltet und wie mit ihr umgegangen werden sollte.

Begrifflichkeit

Das Wort «Trauer» ist mit dem gotischen Begriff «driusan» (= fallen) und dem altenglischen Begriff «drusian» (= sinken, keine Kraft mehr haben), verwandt. Die Worte spiegeln die Haltung eines Trauernden wieder: Er fällt mehr oder weniger in sich zusammen und sinkt zu Boden vor dem Schicksal. Er fühlt sich macht- und kraftlos.

Auch Wörter wie Tropfen oder Träne sind mit dem Begriff der Trauer thematisch verwandt und besitzen die selben indogermanischen Sprachwurzeln. Sie drücken wieder das fallen und sinken aus. Die Träne sinkt aus den Augen und fällt herunter. Der Tropfen fällt auf den Boden und versinkt dort.

Funktion von Trauer

Da unser Verstand nur begrenzt ist, setzen wir Hoffnungen und Erwartungen an die Wirklichkeit fest. Wir erhoffen uns, die Dinge so zu beeinflussen, wie wir sie gerne hätten und tun alles dafür, dass unsere Erwartungen oder Ansprüche an die Realität sich erfüllen. Doch da wir den Lauf der Dinge nicht beeinflussen können, werden wir immer wieder im Laufe eines Lebens enttäuscht. Unsere Hoffnungen und Erwartungen werden nicht erfüllt.

Handelt es sich dabei um kleine Erwartungen, die nicht gravierend in unser Leben einschneiden, dann können wir damit mehr oder weniger umgehen und diese Enttäuschungen abhaken. Sind es jedoch grössere Hoffnungen, die sich nicht erfüllen, wie z.B. der Verlust einer geliebten Person oder eines Jobs, dann entsteht das Gefühl der Trauer in uns. Wir werden traurig, wütend oder verzweifelt und verstehen nicht, warum nicht das eingetreten ist, was wir uns erhofft oder erwartet haben.

In uns passiert Folgendes: Unser Ego akzeptiert während der Trauer, dass die Wirklichkeit sich anders entschieden hat, als es sich dies zuvor ausgemalt hat. In dieser Phase gibt sich unser Ego eine zeitlang selbst auf, denn es wird mit der Wirklichkeit konfrontiert, die anders kam, als erwartet. Durch diese Selbstaufgabe in der Trauer erfährt unser Selbstbild eine Korrektur. Es erhält einen Blick auf die Tatsachen und die Wirklichkeit, die es vorher nicht hatte. Das Ego lernt, diesen neuen Blick auf die Tatsachen zu akzeptieren.

Wenn wir Trauer hingegen vermeiden oder nicht ganz zulassen, bleibt das Ego in seiner Wut über die nicht erfüllten Hoffnungen und Erwartungen gefangen. Es ist enttäuscht von der Wirklichkeit, verweigert sich dem Leben und zieht sich zurück. Dementsprechend wird das Selbstbild im Fall der vermiedenen Trauer keine Korrektur erfahren. Daher ist es sehr wichtig, die Trauer zuzulassen und zu durchleben.

Trauerarbeit

Ein wichtiger Punkt der Trauerarbeit liegt in der Korrektur des Selbstbildes. Bevor wir einen Verlust erleben, egal welcher Art, hängt unser Selbstbild meist sehr eng mit dem zusammen, was verloren geht.

Je mehr unser Selbstwertgefühl abhängig von der Rolle ist, die wir durch wichtige Beziehungen zugewiesen bekommen haben, umso schwerer ist der Verlust aufzuarbeiten. Wenn das einzige, was uns im Leben erfüllt, nur der Job oder nur eine wichtige Person ist, und wir uns und unser Glück darüber definieren, dann kann die Trauerarbeit sehr schwer werden. Denn dann haben wir das Gefühl, es bleibt nichts mehr, was uns im Leben noch glücklich machen könnte.

Wenn die Trauer von uns bis zu ihrem Ende durchlebt wird, entsteht ein neues Selbstbild in uns. Unser Selbstwertgefühl verankert sich tiefer im eigenen Selbst und der wahrgenommenen Wirklichkeit. Diese Phase wird auch als posttraumatische Wachstumsphase bezeichnet.

Wie Trauer sich äussert

Trauer wird auch als eine seelische Belastungsreaktion bezeichnet. In dieser Zeit ist die Anpassung zwischen dem Individuum und der äusseren Wirklichkeit gestört. Sie variiert bei jedem und jeder Mensch geht anders mit ihr um.

Trauer kann stillschweigend und für sich allein erfolgen, sie kann aber auch nach aussen getragen werden. Genauso kann sie monophasisch oder in einzelnen Schüben erfolgen. Es ist nicht unnormal, dass die Trauerphasen von Phasen ausgesprochener Heiterkeit durchzogen werden. Trauer kann zudem sofort, aber auch zeitlich verzögert stattfinden. All dies ist bei jedem Menschen individuell.

Abwehrreaktionen gegen Trauer

Trauer erinnert uns an die Vergänglichkeit unseres Seins. Wir möchten sie am liebsten vermeiden, denn sie ist anstrengend und bedeutet Arbeit. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen und werden mit der Wirklichkeit konfrontiert. Daher ist es nicht untypisch, dass wir uns gegen Trauer wehren und sie versuchen zu vermeiden. Wir wären viel lieber immer glücklich und gut gelaunt, anstatt zu trauern.

Mit Abwehrreaktionen wie Verleumdung, Überspielen, Ablenkung durch Aktivitäten oder Pathologisieren der Trauer, versuchen wir diese zu umgehen. Auch die Betrachtung von Trauer als eine Art «Störfall», den man nur mit Medikamenten behandeln kann, ist eine Art Trauer zu vermeiden. Die Medikamente sollen uns glücklich stimmen und die Trauer unterdrücken. Das kann nicht gesund sein.

Daher ist es wichtig, dass wir die Trauer zulassen, auch wenn es unangenehm ist. Nur so kann unser Selbstbild kontrolliert werden und wir können die Wirklichkeit so akzeptieren, wie sie ist. Auch wenn es schmerzt.